Die geänderte Verfahrensordnung der Beschwerdekammern des EPA (VOBK 2020) ist nun seit über einem Jahr in Kraft. Das übergeordnete Ziel der Neufassung der VOBK war es, die Effizienz der Beschwerdekammern durch eine Straffung des Beschwerdeverfahrens zu steigern. Die Umsetzung dieses Zieles sollte vor allem durch ein dreistufiges Konvergenzverfahren realisiert werden, welches im Wesentlichen in den Art. 12(4), Art. 13(1) und Art. 13(2) VOBK 2020 geregelt ist. Die Konvergenz besteht darin, dass der bisher schon geringe Spielraum der Parteien für neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren (Anträge, Dokumente und Sachvortrag) mit zunehmender Verfahrensdauer noch weiter sinkt.
Die 1. Konvergenzstufe betrifft den Zeitraum bis zum Einreichen der Beschwerdeerwiderung durch die Gegenseite. Die Beschwerdebegründung und die Erwiderung müssen den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten und deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen. Erfüllt ein Teil des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten diese Erfordernisse nicht, bezieht sich also nicht unmittelbar auf eine erstinstanzlich bereits vorgetragene Sach- oder Rechtsausführung, so ist dieser als Änderung zu betrachten. Es steht im Ermessen der Kammer, solche Änderungen zuzulassen (Art. 12(4) VOBK 2020).
Art. 13(1) VOBK 2020 implementiert die 2. Konvergenzstufe. Diese betrifft den an den ersten anschließenden Zeitraum bis zur Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung bzw. bis zu der in der Mitteilung nach Regel 100(2) EPÜ bestimmten Frist. Für die 2. Konvergenzstufe gelten restriktivere Kriterien als für die erste Stufe. Die Beteiligten müssen begründen, warum Änderungen in dieser Phase des Beschwerdeverfahrens ausnahmsweise zugelassen werden sollen. Die Zulassung der Änderungen steht ebenfalls im Ermessen der Kammer.
Die durch Art. 13(2) VOBK 2020 geregelte 3. Konvergenzstufe betrifft den Zeitraum nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung bzw. nach Ablauf der in der Mitteilung nach Regel 100(2) EPÜ bestimmten Frist. In dieser bleiben Änderungen grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, die betreffende Partei kann stichhaltige Gründe aufzeigen, dass außergewöhnliche Umstände die Änderung eindeutig rechtfertigen.
Im vergangenen Jahr sind nun eine Reihe von Entscheidungen der Beschwerdekammern ergangen, die einzelne Kriterien des Konvergenzverfahrens präzisieren.
In T 1501/15 führt die Kammer aus, dass die Anfechtung von erstinstanzlichen Ermessensentscheidungen im Wege der Beschwerde zumindest der Behauptung bedarf, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat. Da ein solcher Vortrag hinsichtlich eines Dokumentes, welches fehlende erfinderische Tätigkeit stützen sollte, fehlte und nahezu eine reine Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrages darstellte, sah die Kammer keine Veranlassung, von der Entscheidung der Einspruchsabteilung abzugehen und das Dokument im Verfahren zu berücksichtigen.
In T 1004/18 hatte die Kammer unter Berücksichtigung der in Art. 13(1) VOBK 2020 angegebenen Kriterien ihr Ermessen ausgeübt und die erst kurz vor der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge nicht in das Verfahren zugelassen. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Beschwerdegegnerinnen mit ihrer Eingabe weder eine Begründung angegeben hatte, weshalb die neuen Hilfsanträge erst zu diesem späten Zeitpunkt eingereicht worden sind, noch, warum diese Änderungen die Eignung hätten, die in der Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin enthaltenen Einwände auszuräumen.
In ihrer Entscheidung T 1482/17 kam die Kammer zu dem Ergebnis, dass die im Laufe der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge gemäß Art. 13(2) VOBK 2020 in das Verfahren zugelassen werden. Dieses deshalb, weil die Änderungen eine direkte Reaktion auf ein Argument, das von der Kammer erstmals von Amts wegen während der mündlichen Verhandlung vorgebracht wurde, waren. Die Kammer war der Ansicht, dass die Patentinhaberin selbst in diesem späten Stadium des Verfahrens Anspruch auf eine Gelegenheit haben muss, die neu aufgeworfenen Einwände zu überwinden.
In T 0752/16 ging es um das Zurückhalten von Änderungen. Hier entschied die Kammer, dass eine Änderung der vorläufigen Meinung der Kammer zu einem bestimmten Einspruchsgrund kein außergewöhnlicher Umstand i.S.d. Art. 13(2) VOBK 2020 ist. Daher könne der Patentinhaber nicht solange Änderungen als Reaktion auf die vorgebrachten Einwände eines Einsprechenden zurückhalten, bis er sich mit einer für ihn negativen vorläufigen Meinung einer Kammer konfrontiert sieht.
Die Neufassung der VOBK hat in der Praxis erhebliche Auswirkungen auf die zunehmend komplexeren erstinstanzlichen Verfahren sowie natürlich auf die Beschwerdeverfahren selbst, in denen aufgrund der restriktiveren Kriterien kaum Raum für Änderungen ist.