Das Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) enthält keine Regelung für ein Doppelpatentierungsverbot. Dieses Verbot soll verhindern, dass ein und derselbe Anmelder für eine Erfindung mehr als ein Patent erteilt bekommt. In Ermangelung einer geeigneten Rechtsgrundlage verweist das Europäische Patentamt (EPA) in der Praxis bei seinem Einwand der Doppelpatentierung üblicherweise auf die EPA-Richtlinien (Teil G, Kapitel IV, Ziffer 5.4) und die darin postulierten „allgemein anerkannten Grundsätze der EPÜ-Vertragsstaaten“, sowie die Entscheidung T 866/06 mit Verweis auf Artikel 125 EPÜ und folgendem Wortlaut: „Soweit dieses Übereinkommen Vorschriften über das Verfahren nicht enthält, berücksichtigt das Europäische Patentamt die in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts“. Andere, konträre EPA-Beschwerdekammerentscheidungen, die eine Anwendung von Artikel 125 EPÜ ausdrücklich für falsch halten, werden in den Prüfungsrichtlinien verschwiegen, so beispielsweise T 587/98 (s. Ziffern 3.6 und 3.7) und T 1423/07 (s. Ziffer 2.2.5).
Abhängig von der Sichtweise der jeweils zuständigen Prüfungsabteilung und dem Kenntnistand des die Anmeldung beurteilenden Prüfers sahen sich die Anmelder bis zu den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 1/05 und G 1/06 im Jahr 2007 zunehmend mit erratischen Doppelpatentierungsbeanstandungen konfrontiert.
Erst mit dem nachfolgend zitierten obiter dictum in den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammern des EPA G 1/05 und G 1/06 jeweils unter Ziffer 13.4 (Unterstreichung hinzugefügt):
„Die Kammer erkennt an, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt, für den er bereits ein Patent besitzt. Die Große Beschwerdekammer hat daher nichts gegen die ständige Praxis des EPA einzuwenden, Änderungen in Teilanmeldungen zu beanstanden und zurückzuweisen, wenn in der geänderten Teilanmeldung derselbe Gegenstand beansprucht wird wie in einer anhängigen Stammanmeldung oder einem erteilten Stammpatent. Dieser Grundsatz kann jedoch nicht geltend gemacht werden, um die Einreichung identischer Anmeldungen zu verhindern, denn das würde gegen den vorrangigen Grundsatz verstoßen, wonach erst anhand der endgültigen Fassung einer Anmeldung zu beurteilen ist, ob sie die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.“
hat sich ein Mindestmaß an Kohärenz in der bis dahin erratischen Entscheidungspraxis der technischen Beschwerdekammern des EPA eingestellt, wobei es noch einer Reihe nachjustierender Entscheidungen bedurfte, die klarstellten, dass mit „demselben Gegenstand“ unter dem Blickwinkel des Schutzbereichs deckungsgleiche Gegenstände gemeint sind (s. z.B. T 1391/07 sowie T 1780/12). In der vielbeachteten Disclaimer-Entscheidung G 2/10 (s. Beitrag vom 06.09.2011) stellte die Große Beschwerdekammer des EPA beiläufig unter Ziffer 4.5.5. erstmalig fest, dass der Anmelder durchaus das Recht hat zunächst eine bevorzugte Ausführungsform in der Stammanmeldung zur Erteilung zu bringen und anschließend die allgemeine Lehre in einer Teilanmeldung weiterverfolgen darf.
Wie schwierig es unter Umständen sein kann als Anmelder zu seinem in G 2/10 ausdrücklich zugestandenen Recht zu kommen, belegt die jüngste Entscheidung T 0803/10 vom 6. Juni 2014. Im Einzelnen:
Beansprucht wurde in der Stamm- und Teilanmeldung ein Medikament, wobei sich in der Stammanmeldung das anspruchsgemäße Medikament durch den Verwendungsweck „zur Verabreichung an ein Säugetier das einem Risiko eines CNS-Tumorwachstum ausgesetzt ist“ unterschied und untypischerweise nicht in dem Format der zweiten medizinischen Indikation („Medikament X zur Verwendung in der Behandlung der Krankheit Y / zur Prophylaxe gegen die Krankheit Y“) abgefasst war. Der Anspruch der Teilanmeldung wies diesen Verwendungszweckzusatz nicht auf und war auf das Medikament als solches gerichtet. Die Prüfungsabteilung des EPA ging zunächst von einem identischen Schutzbereich in Stamm- und Teilanmeldung aus, offensichtlich weil sie dem Verwendungszweck im Anspruch der Stammanmeldung „zur Verabreichung an ein Säugetier das einem Risiko eines CNS-Tumorwachstum ausgesetzt ist“ keine schutzbereichseinenge Wirkung zuschrieb und hier möglicherweise eine nicht schutzbereichseinenge Auslegung im Sinne von lediglich „geeignet für“ (EPA Richtlinien, Teil F, Kapitel IV, Ziffer 4.13) im Hinterkopf hatte.
Dem wollte die Beschwerdekammer mit folgender Begründung nicht folgen:
Der Zusatz im Medikamentenanspruch des Stammpatents „zur Verabreichung an ein Säugetier das einem Risiko eines CNS-Tumorwachstum ausgesetzt ist“ definiert das Medikament insoweit näher, als dass es für diesen Verwendungszweck zumindest geeignet sein muss. Lässt man diese Einschränkung in dem Anspruch weg, führt dies automatisch zu einer Erweiterung seines Schutzbereichs, da die zuvor existierende Einschränkung nicht mehr da ist (Ziffer 3.4 in T 0803/10). Mit einfachen Worten: Der Schutzbereich des beanspruchten Gegenstands der Teilanmeldung ist breiter als der Schutzbereich des Gegenstands der erteilten Stammanmeldung, d.h. die beanspruchten Gegenstände sind voneinander verschieden und das Doppelpatentierungsverbot kann folglich nicht greifen.