Der Schutzbereich eines europäischen Patents wird gemäß Art. 69(1) EPÜ durch die Ansprüche bestimmt. Es ist daher von größter Bedeutung, die Ansprüche auf der Grundlage konkreter Ausführungsformen der Erfindung einerseits weitestgehend abstrakt zu formulieren um einen möglichst breiten Schutzbereich zu erlangen, andererseits aber nicht Gefahr zu laufen, sich dem Einwand der mangelnder Ausführbarkeit gemäß Art. 83 EPÜ auszusetzen. 

Eine in Bezug auf Art. 83 EPÜ trickreiche Situation kann sich im Bereich der Patentierung von Verbindungen für medizinische Zwecke ergeben, bei denen üblicherweise auf das Wortlautformat der sogenannten ersten medizinischen Indikation „Verbindung X zur Verwendung in der Medizin“ bzw. „Verbindung X zur Verwendung als Arzneimittel“ oder das Wortlautformat der zweiten medizinischen Indikation „Verbindung X zur Verwendung bei der Behandlung einer Krankheit aus der Liste der Krankheiten Y, Z usw.“ zurückgegriffen wird. Bei dem Anspruchsformat der ersten medizinischen Indikation wird die Ausführbarkeit nach Art. 83 EPÜ für den Anspruch bereits dann als erfüllt angesehen, wenn die therapeutische Wirkung für zumindest irgendeine medizinische Indikation nachgewiesen wurde oder plausibel ist. Im Unterschied dazu muss bei einem Anspruch im Format der zweiten medizinischen Indikation die therapeutische Wirkung für alle beanspruchten Indikationen Y, Z usw. belegt werden oder plausibel sein. Mit anderen Worten, wenn die therapeutische Wirkung einer Verbindung zum ersten Mal gezeigt wurde, kann im Hinblick auf Art. 83 EPÜ ein Anspruch im Format der zweiten medizinischen Indikation in einem Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren von Dritten leichter angegriffen oder sogar vernichtet werden als ein Anspruch im Format der ersten medizinischen Indikation. Dies ist insofern irritierend, als der Anspruch im Format der ersten medizinischen Indikation in Bezug auf den Schutzumfang wertvoller ist, da er jede medizinische Verwendung abdeckt, einschließlich der Verwendung zur Behandlung der Indikationen Y, Z usw., wie sie im Anspruchsformat der zweiten medizinischen Indikation definiert sind. 

Die jüngste Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA in der Sache T 2627/17 vom 25. Januar 2022 veranschaulicht diese trickreiche Situation. Das im Einspruchsverfahren angegriffene Patent betraf Verbindungen zur Behandlung, Vorbeugung oder Diagnose von Krankheiten, die eine Östrogenrezeptoraktivität umfassen. Die ursprünglich eingereichte Patentanmeldung umfasste Daten zur biologischen Aktivität für beispielhafte Verbindungen, die von der Beschwerdekammer als ausreichend angesehen wurden, um den unter Art. 83 EPÜ von der Einsprechenden angegriffenen Anspruch im Format der ersten medizinischen Indikation mit dem Verwendungszweck „zur Verwendung in der Medizin“ als ausführbar anzusehen. Zu einer anderen Schlussfolgerung gelangte die Kammer jedoch bei dem weiteren Anspruch im Format der zweiten medizinischen Indikation, der sich auf dieselben Verbindungen aber mit dem detaillierteren Verwendungszweck „zur Verwendung bei der Behandlung von …(Liste von Indikationen, darunter z. B. Alkoholismus, Migräne, Zirrhose, Hepatitis B, chronische Lebererkrankung, Knochendichte, Fettleibigkeit, Migräne, ADHS, Demenz, schwere depressive Störung und Psychose)“ bezog. Für eine Vielzahl der spezifizierten Indikationen gab es keine nachprüfbaren Belege für einen Zusammenhang mit dem Östrogenrezeptor, so dass die Kammer davon ausging, dass die therapeutischen Wirkungen bei diesen Indikationen auch nicht erzielt werden können. Im Ergebnis wurde daher eine mangelnde Ausführbarkeit nach Art. 83 EPÜ bei diesem Anspruch angenommen und alle anhängigen Anspruchssätze mit diesem Anspruch wurden von der Kammer zurückgewiesen.

Wenn Patentanmelder eine therapeutische Wirkung einer Verbindung zum ersten Mal nachweisen, lohnt es sich daher auf jeden Fall, diese spezifische Verwendung nicht nur mittels Wortlaut im Anspruchsformat der zweiten medizinischen Indikation zu beanspruchen, sondern auch das Format der ersten medizinischen Indikation („Verbindung X zur Verwendung in der Medizin“ oder „Verbindung X zur Verwendung als Arzneimittel“) mit einem größeren Schutzbereich und geringen Problemen im Hinblick auf Art. 83 EPÜ zu wählen.