Vor zwei Jahren erklärte das Bundespatentgericht den deutschen Teil des europäischen Patents 0 799 436 für nichtig [Urt. v. 1.8.2013 – 4 Ni 28/11 (EP)], das unter Inanspruchnahme der Priorität eines deutschen Gebrauchsmusters angemeldet wurde. Das Bundespatentgericht begründete die Entscheidung u.a. damit, dass das im europäischen Einspruchsverfahren zum Hauptanspruch hinzugefügte Merkmal „wobei die Folie eine Fläche von mindestens 3 mal 4 m aufweist“ in der Prioritätsgebrauchsmusteranmeldung nicht offenbart war und folglich dem Anspruch die Priorität fehlt, d.h. er auf den Anmeldetag der Nachanmeldung zurückfällt. In der Tat finden sich in der Gebrauchsmusteranmeldung keinerlei zahlenmäßige Flächenangaben zu der Folie, wie sie in den oben dargestellten Abbildungen 2 und 4 aus der Gebrauchsmusterschrift mit der Bezugsziffer 16 und zur schnelleren Übersicht rot hervorgehoben ist.

Ohne die Merkmalspriorität aus dem Gebrauchsmuster, das ärgerlicherweise ohne eine aufschiebende Bekanntmachung bereits vor dem Anmeldetag der Nachanmeldung publiziert wurde, kam es zur „Selbstkollision“. D.h. der Nachanmeldung wurde das eigene Gebrauchsmuster als nächstliegender Stand der Technik entgegengehalten und im Ergebnis erfinderische Tätigkeit verneint. So weit, so schlecht für den Patentinhaber, der bis dahin Glück hatte, denn gleiches Schicksal hätte ihn bereits im Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt ereilen können, wo diese Problematik jedoch nicht zur Sprache kam.

Ab hier wird es interessant…und der Fachmann wundert sich, denn der Bundesgerichtshof als höhere Instanz hat nun mit Urteil vom 15. September 2015 ( X ZR 112/13 – Teilreflektierende Folie) eine unmittelbar und eindeutige Offenbarung des Merkmals „wobei die Folie eine Fläche von mindestens 3 mal 4 m aufweist“ aus den oben dargestellten Abbildungen der Prioritätsgebrauchsmusteranmeldung herausgelesen und im Ergebnis dem Hauptanspruch eine wirksame Priorität unter Vermeidung der Selbstkollision zugestanden und ausgeführt:

„Eine Mindestfläche der Folie von 3 m auf 4 m kann der Fachmann der L2 (Prioritätsgebrauchsmuster) unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen. … Aus dem Verhältnis der Größe des Vortragenden (Bezugszeichen 38) zu dem Abstand zwischen Bühnenboden- und Decke und unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Folie nicht senkrecht, sondern schräg verläuft, ergibt sich ohne weiteres, dass die dort gezeigte Folie eine Höhe von mindestens 3 m aufweist. Figur 4 lässt zudem erkennen, dass die Folie mindestens 4 m breit ist. Dies wird nicht nur dadurch deutlich, dass die Breite der Folie deren Höhe merklich übersteigt, sondern auch aus den aus Figur 4 ersichtlichen Größenverhältnissen zwischen Vortragenden und Bildobjekt.“

Berücksichtigt man, dass schematische Zeichnungen analog der obig dargestellten üblicherweise nicht maßstabsgerecht sind und auch nicht dafür bestimmt sind aus ihnen exakte Werte oder Verhältnisse zu entnehmen, ist die großzügige patentinhaberfreundliche Sichtweise des Bundesgerichtshofs verwunderlich und gegensätzlich zur ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA basierend auf den Entscheidungen T 15/81: „Figuren kommt nämlich nur die Aufgabe zu, den prinzipiellen Aufbau einer Einrichtung zu erläutern. Sie sind aber nicht dazu bestimmt, irgendwelche maßlichen Angaben oder Relationen zu vermitteln“ und T 204/83: „Kein Fachmann würde daher eine Schemazeichnung nachmessen, um dadurch die Abmessungen des dargestellten Gegenstands mit Sicherheit zu ermitteln. Abmessungen, die sich aus einer schematischen Darstellung nur durch Nachmessen ergeben, gehören somit nicht zum Offenbarungsgehalt eines Dokuments.“

Damit schafft der Bundesgerichtshof neben der großzügigen „Fußnotenlösung“ (s. Beitrag vom 14.7.2011) einen weiteren „unique selling point“, der für Patentanmeldungen in Deutschland und die „opt-out“ Erklärung beim zukünftigen Einheitspatent spricht, um in den Genuss der anmelderfreundlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu kommen.