Grundsätzlich dürfen Patentanmeldungen bzw. erteilte Patente nicht in der Weise geändert werden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Insbesondere nichteuropäische Anmelder werden oft von der aus ihrer Sicht häufig unangemessen harten Auslegung der entsprechenden europäischen Bestimmung (Art. 123 Abs. 2 EPÜ) durch das Europäische Patentamt (EPA) überrascht, gerade dann, wenn sie in ihrer Heimat an eine großzügigere Auslegung gewöhnt sind und die Anmeldung für die unvorhergesehenen europäische Beanstandungen nach Art. 123 Abs. 2 EPÜ keine geeigneten Rückzugspositionen enthält. Ein solcher „Alptraumklassiker“ für Anmeldegegenstände auf dem Gebiet der Chemie, Pharmazie und Biotechnologie ist das nachfolgend kurz erläuterte „Zwei-Listen-Prinzip“ des EPA.
Der Anmeldegegenstand beansprucht eine Kombination aus einer ersten Liste (Liste 1) und einer zweiten Liste (Liste 2). In einer Chemie-Anmeldung ist dies beispielsweise eine beanspruchte „Markush-Formel“ mit spezifischen Substituenten an einer ersten generischen Position (Liste 1) und spezifischen Substituenten an einer zweiten generischen Position (Liste 2) der Markush-Formel. In einer Pharmazie-Anmeldung käme eine Auswahl an spezifischen Verbindungen (Liste 1) zur Behandlung verschiedener Krankheiten (Liste 2) in Betracht.
Zur einfachen Erläuterung ist diese Ausgangssituation oben dargestellt, wobei die Liste 1 aus den vier spezifischen Bedeutungen A, B, C, D und die Liste 2 aus den vier spezifischen Bedeutungen 1, 2, 3, 4 besteht. Der Anspruch erfasst damit 4 x 4 = 16 Kombinationen. Will man einige davon streichen, um die Erteilungschancen zu erhöhen, bekommt man es mit den Tücken der EPA-Praxis zu tun.
Danach ist das Streichen von Elementen aus den Listen unbedenklich, solange nicht eine einzige spezifische Kombination übrig bleibt. Das heißt, von den oben dargestellten zwei Varianten ist Variante I erlaubt (vgl. T 615/95, T 888/08), nicht hingegen Variante II mit der allein verbleibenden Kombination „B-4“(vgl. T 859/94, T 727/00). Als Begründung für die erlaubte Variante I wird seitens des EPA üblicherweise argumentiert, dass der beanspruchte Gegenstand generisch bleibt und sich lediglich vom ursprünglich eingereichten Gegenstand dadurch unterscheidet, dass er kleiner ist (T 615/95, Punkt 6 der Begründung; T 888/08, Punkt 3.2 der Begründung).
Zwischen den Varianten I und II liegt die oben dargestellte Variante III, in der Liste 1 auf das einzige Element B beschränkt ist und in der Liste 2 noch mehrere Elemente belassen wurden. Nach bisherigem Verständnis des „Zwei-Listen-Prinzips“ sollte dies zulässig sein, denn es bleibt ja mehr als lediglich eine einzige spezifische Kombination übrig.
Anders jedoch die jüngeren Entscheidung T 47/07 einer Beschwerdekammer des EPA vom 12. Okt 2010: Dort war Ausgangspunkt eine Auswahl von elf Wirkstoffen (Liste 1 mit elf Elementen) zur Behandlung von drei verschiedenen Krankheiten (Liste 2 mit drei Elementen). Im Verlauf des Prüfungsverfahrens schränkte die Anmelderin die Liste der Wirkstoffe auf sieben und die der Krankheiten auf eine Krankheit ein, es ergab sich also obige Variante III. Die Beschwerdekammer hielt dies für unvereinbar mit Art. 123 Abs. 2 EPÜ, da sie die verbleibenden sieben Kombinationen nicht als hinreichend ursprungsoffenbart ansah. Da sich die Entscheidungsgründe nicht eingehend mit dem „Zwei-Listen-Prinzip“ auseinandersetzen, bleibt offen, ob die Beschwerdekammer das Prinzip generell in Frage stellt oder lediglich eine Anwendung auf Variante III für ausgeschlossen hält oder aber sich durch Besonderheiten des Falls von einer Anwendung abhalten ließ.
In der Anmeldepraxis jedenfalls sollte man sich tunlichst nicht auf das „Zwei-Listen-Prinzip“ verlassen, sondern bei Abfassung von Beschreibungen im Rahmen des Möglichen auf die Einzelkombinationen eingehen.