Die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit von beanspruchten Gegenständen beim EPA beruht auf einem Ansatz, der in der Regel den Nachweis einer vorteilhaften technischen Wirkung für diesen Gegenstand verlangt, z. B. auf der Grundlage von Beweismitteln wie vergleichenden experimentellen Daten, die diese technisch vorteilhafte Wirkung gegenüber dem vom EPA als nächstliegenden Gegenstand herangezogenen Stand der Technik belegen.

Da der Anmelder häufig nicht weiß, welcher Stand der Technik vom EPA als der nächstliegende angesehen wird, umfasst die ursprünglich eingereichte Anmeldung in der Regel keine derartigen Nachweise, insbesondere keinen vergleichenden Versuchsdaten zu dem vom EPA ermittelten Stand der Technik. Die praktische Lösung dieses Problems liegt in der Nachreichung der erforderlichen „nachveröffentlichten“ Beweise, insbesondere Versuchsdaten, mit denen dann die vorteilhafte technische Wirkung glaubhaft gezeigt und erfinderische Tätigkeit begründet werden kann.

Eine Frage von grundlegender Bedeutung ist dabei, in welchem Umfang und unter welchen Umständen es dem Anmelder erlaubt sein sollte, sich auf solche nachveröffentlichten Beweise zu stützen, insbesondere wenn die fragliche technische Wirkung ausschließlich auf diesen nachveröffentlichten Beweisen beruht und nur damit erfinderische Tätigkeit argumentiert werden kann.

In der jüngsten Entscheidung G 2/21 vertrat die Große Beschwerdekammer des EPA die Auffassung, dass diese Frage im Rahmen des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung des EPA zu sehen ist, der es nicht erlaubt, nachveröffentlichte Beweismittel allein deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil sie nach dem Anmeldetag vorgelegt wurden. Der entsprechende erste Leitsatz der Entscheidung liest sich wie folgt:

Die von einem Patentanmelder oder Patentinhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung, die für die Feststellung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands herangezogen wird, vorgelegten Beweismittel dürfen nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben, weil diese Beweismittel, auf die sich die Wirkung stützt, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht veröffentlicht waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.

Damit wird klargestellt, dass Beweismittel zur Stützung einer erfinderischen Tätigkeit grundsätzlich weiterhin vorgelegt werden können und nicht von vorneherein ausgeschlossen sind.

Darüber hinaus gibt die Große Beschwerdekammer im zweiten Leitsatz der Entscheidung auch (in zugegebener Weise äußerst abstrakte) Hinweise zu Erwägungen, die bei der Entscheidung darüber, ob nachveröffentlichte Beweismittel zur Stützung einer geltend gemachten technischen Wirkung herangezogen werden können oder nicht, helfen sollen. So heißt es (Unterstreichung hinzugefügt):

Ein Patentanmelder oder -inhaber kann sich bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit  auf eine technische Wirkung berufen, wenn der Fachmann in Kenntnis des allgemeinen Wissensstandes und auf der Grundlage der eingereichten Anmeldung diese Wirkung als von der technischen Lehre umfasst und von der gleichen ursprünglich offenbaren Erfindung verkörpert ableiten kann.

Um diese abstrakte Orientierungshilfe der Großen Beschwerdekammern in die Praxis umzusetzen, wäre es hilfreich zu verstehen, was es bedeutet, dass eine Wirkung „von der technischen Lehre umfasst“ und „durch dieselbe Erfindung verkörpert“ ist. Leider liefert die Entscheidung diesbezüglich nicht die wünschenswerte Deutlichkeit, was zu unterschiedlichen Auffassungen über ihre Auslegung führen dürfte.

Was die Entscheidung jedoch im Abschnitt „Zwischenfazit“ in Absatz 77 auf Seite 66 der Entscheidung klar hervorhebt, ist, dass im Falle von Ansprüchen auf medizinische Verwendung

… der Nachweis einer behaupteten therapeutischen Wirkung in der ursprünglich eingereichten Anmeldung erbracht sein muss, insbesondere dann, wenn bei Fehlen experimenteller Daten in der ursprünglich eingereichten Anmeldung für den Fachmann nicht glaubhaft ist, dass die therapeutische Wirkung erzielt wird. Ein diesbezüglicher Mangel kann nicht durch nachveröffentlichte Beweise ausgeräumt werden.

In einem beispielhaften Fall bedeutet dies also Folgendes:

Wenn z.B. eine Verbindung eine therapeutische Wirkung erzielt, die völlig unerwartet ist und z.B. dem Vorurteil in der Fachwelt widerspricht, aber die entsprechenden experimentellen Daten in der ursprünglich eingereichten Anmeldung fehlen (z.B. weil die Anmeldung so schnell wie möglich eingereicht werden musste und die experimentellen Ergebnisse zunächst nur vorläufige Ergebnisse waren, die für die Anmeldung als nicht gut genug befunden und deshalb nicht in die Anmeldung aufgenommen wurden), kann dies nicht mehr durch die nachträgliche Einreichung solcher experimentellen Daten geheilt werden um doch noch erfinderische Tätigkeit basierend auf diesen nachgereichten Daten argumentieren zu können.