Bei der Frage der Neuheit einer Erfindung, deren Kern in der Auswahl eines Teilbereichs aus einem größeren aus dem Stand der Technik bekannten Bereich liegt, wird beim EPA ein spezifischer Neuheitstest angewendet. Dieser spezifische Neuheitstest wurde in der Beschwerdekammerentscheidung T 198/84 vor knapp 40 Jahren entwickelt, und entspricht der in der jüngeren Vergangenheit angepassten Herangehensweise, wie sie sich auch in dem Entwurf der EPA-Prüfungsrichtlinien 2023 mit folgendem Wortlaut findet:
Ein aus einem größeren Zahlenbereich des Standes der Technik ausgewählter Teilbereich gilt als neu, wenn jedes der zwei folgenden Kriterien erfüllt ist (siehe T 261/15):
- der ausgewählte Teilbereich ist im Vergleich zum bekannten Bereich eng;
- der gewählte Teilbereich hat genügend Abstand von konkreten im Stand der Technik offenbarten Beispielen.
Die Bedeutung der Begriffe „eng“ und „genügend Abstand“ ist von Fall zu Fall zu entscheiden.
Dieser Neuheitstest für Teilbereiche ist jedoch in Anbetracht der jüngsten Beschwerdekammerentscheidung T 1688/20 vom 19. Oktober 2022 nicht mehr gültig.
In dieser Entscheidung stellte die Beschwerdekammer zunächst allgemein fest, dass „die Kammer nicht davon überzeugt ist, dass die relativen Begriffe ‚eng‘ und ‚genügend Abstand‘ objektive, zuverlässige und stimmige Kriterien für die Feststellung der Neuheit eines ausgewählten Teilbereichs darstellen„, und ließ dann die oben genannten Kriterien a) und b) außer Acht und wandte stattdessen direkt den „Goldstandard“-Neuheitstest des EPA an, bei dem es nur darum geht, ob ein Fachmann den beanspruchten Teilbereich unmittelbar und eindeutig aus dem Stand der Technik entnehmen kann.
Im vorliegenden Fall offenbarte der Stand der Technik einen Bereich von „55 bis 60 Grad“, der sich von dem beanspruchten Teilbereich von „56 bis 59 Grad“ unterschied, weshalb die Beschwerdekammer zu dem Schluss kam, dass der Fachmann bei Anwendung des „Goldstandards“ den beanspruchten Teilbereich nicht unmittelbar und eindeutig aus der Offenbarung des Standes der Technik entnehmen kann, d. h. Neuheit anzuerkennen ist.
Anmelder, die beim EPA anhängige oder neue Anmeldungen haben, die den Neuheitstest des EPA für Teilbereiche gemäß den oben zitierten EPA-Prüfungsrichtlinien nicht bestehen würden, obwohl der Stand der Technik den beanspruchten Teilbereich als solchen nicht offenbart, können sich auf die Entscheidung T 1688/20 berufen, die den „Goldstandard“-Test zu ihren Gunsten anwendet. Dies macht auch deshalb Sinn, weil diese Entscheidung weder für die Veröffentlichung im Amtsblatt des EPA noch für die interne Verteilung im EPA vorgesehen ist, und auch den meisten Prüfern des EPA, die nur in den oben zitierten (und insofern bei Inkrafttreten am 1. März 2023 bereits veralteten) EPA-Prüfungsrichtlinien nachschlagen, unbekannt sein sollte.