Die Entscheidung G 2/88 der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) wird gerne für die Begründung herangezogen, dass Produktverfahrensansprüchen grundsätzlich ein geringerer Schutzumfang zukommt als Ansprüchen auf das Produkt per se.
Nach Auffassung des EPA soll diese Sichtweise auch für Ansprüche der zweiten medizinischen Indikation in dem veralteten Format der sogenannten „Schweizer Formulierung“ unter dem alten Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ 1973) vs. dem neuem Anspruchsformulierungsformat gemäß Artikel 54 (5) EPÜ 2000 gelten. Dabei kategorisiert das EPA den Wortlaut der veralteten Schweizer Anspruchsformulierung „Verwendung des Stoffs X für die Herstellung eines Medikaments zur Behandlung der Krankheit Y“ als zweckbestimmten Verfahrensanspruch, dem angeblich ein geringerer Schutzbereich zukommt als einem zweckbestimmten Produktanspruch mit dem Artikel 54(5) EPÜ konformen Wortlaut „Stoff X zur Verwendung in der Behandlung der Krankheit Y“. Siehe dazu z.B. die Beschwerdekammerentscheidungen T 1780/02 und T 879/12 im Zusammenhang mit der Doppelpatentierungsproblematik oder die Entscheidung T 250/05 und die kürzlich veröffentlichte Entscheidung T 1673/11 im Zusammenhang mit einer unzulässigen Erweiterung des erteilten Patents nach Artikel 123 (3) EPÜ im Einspruchsverfahren.
Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass ein wesentliches ursprünglich bezwecktes Ziel bei der Neuschaffung der Bestimmung von Artikel 54(5) EPÜ darin bestand, die Regelungslücke im alten EPÜ 1973, die durch die Beschwerdekammerentscheidung G 5/83 zur Gewährbarkeit von Ansprüchen der Schweizer Formulierung provisorisch gestopft wurde, mit der Bestimmung des Artikels 54(5) des neuen EPÜ 2000 zu schließen (s. dazu G 2/08 und Travaux préparatoire, CA/PL 4/00, Punkte 6 bis 8). Mit anderen Worten, dem Gesetzgeber ging es um die Beibehaltung des Status quo für Ansprüche der zweiten medizinischen Indikation und ganz sicher nicht darum, Anmeldern Doppelpatentierungsoptionen zu eröffnen oder mit Blick auf Artikel 123(3) EPÜ Fallen auszulegen, die zum Verlust des bereits erteilten Patents aufgrund der nunmehr vom EPA praktizierten Sichtweise führen können.
Wie dem auch sei, die durch die oben genannte Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA etablierten „Spielregeln“ gilt es durch die EPÜ-Nutzer zu eigenen Gunsten anzuwenden, sei es durch die doppelte Patentierung derselben Erfindung als zweite medizinische Indikation unter Nutzung der alten (Schweizer) Anspruchsformulierung und neuen Anspruchsformulierung in separaten Anmeldungen solange dies noch möglich ist (gemäß G 2/08 für alle Anmeldungen mit einem Prioritätstag vom 29.01.2011 oder davor), so dass eine bestmögliche Durchsetzung der Ansprüche im Verletzungsverfahren möglich ist (siehe z.B. P. England, “Infringement of second medical use patents in Europe and the UPC”, GRUR Int. 7/2016, Seiten 714-720), oder wenn es gilt, ein bereits erteiltes Patent zum Beispiel im Einspruchsverfahren mit Blick auf Artikel 123(3) EPÜ anzugreifen.