Hat ein Patentanmelder seine Erfindung im In- oder Ausland angemeldet, so kann er für seine Nachanmeldung innerhalb eines Jahres die Priorität seiner Voranmeldung beanspruchen. Der Vorteil der Inanspruchnahme der Priorität liegt unter anderem darin, dass die Nachanmeldung den früheren Zeitrang der Erstanmeldung erhält und vorteilhafterweise zwischen der Erst- und Nachanmeldung öffentlich gemachter Stand der Technik bei der Prüfung des beanspruchten Gegenstandes der Nachanmeldung auf Patenfähigkeit nicht berücksichtigt wird.

Voraussetzungen für eine wirksame Inanspruchnahme der Priorität auf ein in der Nachanmeldung beanspruchten Gegenstand sind jedoch aus Sicht der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts (EPA), dass

  • derselbe beanspruchte Gegenstand für den Fachmann bereits aus der Erstanmeldung unmittelbar und eindeutig zu entnehmen ist (s. G 2/98) und
     
  • die Erfindung bereits auf Grundlage der in der Erstanmeldung zur Verfügung stehenden Offenbarung nacharbeitbar ist (s. T 81/87; T 843/03).

Für Erfindungen, die sich auf biologisches Material beziehen, das in der Patentanmeldung nicht so beschrieben ist, dass ein Fachmann die Erfindung danach ausführen kann, gibt es als Rückfallposition die Möglichkeit, das biologische Material bei einer anerkannten Hinterlegungsstelle zu deponieren. Dritte können dann bei Bedarf auf dieses hinterlegte Material zugreifen und die Erfindung beispielsweise als Lizenznehmer oder im Rahmen des Forschungsprivilegs nacharbeiten. Erfolgt die Hinterlegung jedoch nicht spätestens am Anmeldetag der Erstanmeldung, kann der auf dem biologischen Material basierende beanspruchte Gegenstand der Nachanmeldung nicht wirksam auf die Priorität der Erstanmeldung zurückgreifen (Ziffer 1.4 der Mitteilung des EPA vom 7. Juli 2010 über Erfindungen, bei denen biologisches Material verwendet wird oder die sich auf biologisches Material beziehen).

Jüngstes Beispiel für diese Sichtweise des EPA und die Konsequenzen daraus ist die Entscheidung T 107/09 der Technischen Beschwerdekammer 3.3.04 vom 12. Juli 2012 in Bezug auf eine europäische Nachanmeldung, die die Priorität einer US-Erstanmeldung beanspruchte.

Der Gegenstand des Patentanspruchs der europäischen Nachanmeldung umfasste als wesentliches Merkmal der Erfindung eine Zelllinie, die zwar vor dem Anmeldetag der europäischen Nachanmeldung, aber erst nach dem Anmeldetag der US-Erstanmeldung hinterlegt wurde. Im Ergebnis verneinte die Beschwerdekammer nach oben genannten Kriterien eine wirksame Prioritätsinanspruchnahme, d.h. der europäischen Nachanmeldung kam nur der jüngere Zeitrang der Nachanmeldung zu. Durch diese Zeitrangverschiebung wurde zunächst ausgeblendeter Stand der Technik relevant, der die erfinderische Tätigkeit des Anspruchsgegenstands in Frage stellte.

Für die Praxis bedeutet dies, dass insbesondere mit dieser strengen EPA-Sichtweise nicht vertraute ausländische Anmelder rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht und auf eine Hinterlegung des biologischen Materials vor dem Anmeldetag der Erstanmeldung gedrängt werden sollten. Dies gilt insbesondere für die auf dem Gebiet der Biotechnologie besonders aktiven US-Anmelder, die eine deutlich liberalere Herangehensweise unter dem heimischen „enablement-requirement“ gewohnt sind, wonach eine spätere Hinterlegung des biologischen Materials bis zur Erteilung des US-Patents als ausreichend gilt (s. Entscheidung „In re Lundak“, 773 F.2d 1216, 227 U.S.P.Q. Fed.Cir. 1985).