Die meisten Erfindungen basieren auf bestehendem Wissen. Dieses Wissen, im Patentrecht auch „Stand der Technik“ genannt,  steht immer breiteren Kreisen zur Verfügung und geht mit einem steigenden Anteil von Parallelerfindungen einher, d.h. mehrere Erfinder bzw. Erfindergruppen gelangen unabhängig voneinander ausgehend vom verfügbarem Wissen bzw. Stand der Technik nahezu zeitgleich zu derselben Erfindung.

Wird diese Erfindung „doppelt“ zum Patent angemeldet, so erfahren die Parallelerfinder frühestens mit der Publikation der Patentanmeldung, d.h. in der Regel 18 Monate nach dem Anmeldetag von der Patentanmeldung der anderen Erfinder. In Ländern oder Regionen mit dem „first-to-file“-Grundsatz wo es auf den Anmeldetag ankommt, beispielsweise in Europa im Rahmen des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ), hat der Anmelder mit jüngerem Anmeldetag das Nachsehen. Er muss gegenüber der minimal älteren parallelen Patentanmeldung, die aufgrund der entsprechenden Regelung im EPÜ häufig auch als 54(3) EPÜ Dokument bezeichnet wird, Neuheit herstellen um überhaupt noch ein Patent erhalten zu können.

Glück im Unglück hat der zu spät gekommene Anmelder dann, wenn die ältere Anmeldung nur einen Ausschnitt der Erfindung offenbart, so dass die jüngere Anmeldung durch geschickte Formulierung des Patenanspruchs wenigstens den „Rest“ der Erfindung schützen kann. Dies geschieht häufig durch das Einfügen eines „negativen“ technischen Merkmals in den Patentanspruch, einen so genannten Disclaimer, womit die Ausführungsarten der älteren Anmeldung, d.h. des Artikel 54(3) EPÜ Dokuments, ausgeschlossen werden.

Dass eine entsprechende Formulierung des Disclaimer zur präzisen Abgrenzung gegenüber einem Artikel 54(3) EPÜ Dokument nicht immer einfach ist, zeigt die jüngste Entscheidung T 1194/06 der Technischen Beschwerdekammer 3.3.01 vom 6. August 2009. In dieser Entscheidung ging es um die durch die Große Beschwerdekammer in ihren Entscheidungen G 1/03 und G2/03 aufgestellte Bedingung, wonach ein Disclaimer nicht mehr ausschließen sollte, als nötig ist, um die Neuheit gegenüber einem  Artikel 54(3) EPÜ Dokument wiederherzustellen.

Das der Entscheidung T 1194/06 zu Grunde liegende Streitpatent wurde zunächst auf eine Verbindung mit Markush-Struktur mit einer Vielzahl an Substituenten erteilt. Im anschließenden Einspruchsverfahren stellte die Patentinhaberin gegenüber einem Artikel 54(3) EPÜ Dokument mittels Disclaimer Neuheit her, wobei der Disclaimer mehr unter die Markush-Struktur fallende Verbindungen ausschloss, als das Artikel 54(3) EPÜ Dokument offenbarte. Das Patent wurde in der Disclaimer-beschränkten Anspruchsform aufrechterhalten, wogegen (nur) die Einsprechende Beschwerde einlegte.

Nachdem die Beschwerdekammer mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitteilte, dass nach Ihrer Auffassung der Disclaimer unzulässigerweise mehr abdeckte, als im Artikel 54(3) EPÜ Dokument offenbart war, und damit mehr aus dem Anspruch ausschloss, als zur Herstellung der Neuheit notwendig war, saß die Pateninhaberin in der Falle. Eine nachträgliche Korrektur des Disclaimer, so dass dieser präzise nur die Verbindungen des Artikel 54(3) Dokuments erfasst hätte, war nicht mehr möglich. Denn dies hätte den Schutzbereich des Anspruchs unerlaubterweise erweitert. Unerlaubt deshalb, weil nur die Einsprechende Beschwerde eingelegt hatte und im Ergebnis die Einsprechende als alleinige Beschwerdeführerin schlechter dagestanden hätte als ohne ihrer eingelegten Beschwerde [Grundsatz des Verbots der reformatio in peius (zu deutsch: Umwandlung zum Schlechteren)].

Entrinnen konnte die Pateninhaberin dieser Falle nur, indem sie den Anspruch auf eine im Streitpatent explizit offenbarte Unterkombination beschränkte, so dass der Disclaimer keine Rolle mehr spielte. Der Preis dafür war hoch – ein Patent mit einem engeren Schutzbereich als es der Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ ursprünglich erfordert hätte.