Im Patenrecht gilt der allgemeine Grundsatz, dass ein Produktanspruch nur gewährbar ist wenn das Produkt als solches neu ist. Jedoch keine Regel ohne Ausnahme. Als das Europäische Patentübereinkommen (EPÜ 1973) in Form gegossen wurde machten „interessierte Kreise“ geltend, dass eine Förderung der Forschung in Bezug auf neue therapeutische Anwendungen bereits bekannter Wirkstoffe von humanitärem Wert sei (BR/135/e/71 ms, Ziffer 92). Das Ergebnis dieser Lobbyarbeit war Artikel 54(5) EPÜ 1973 [entspricht dem jetzigen Artikel 54(5) EPÜ 2000], der selbst einer bereits bekannten Zusammensetzung oder Stoff für eine neue medizinische Verwendung Neuheit zuspricht und damit den eingangs genannten Grundsatz durchbricht. Anzumerken ist, dass neben den Zusammensetzungen und Stoffen medizinische Vorrichtungen und Medizinprodukte nicht als Ausnahme aufgenommen wurden, weder im ursprünglichen EPÜ1973, noch bei der Erarbeitung des derzeit gültigen EPÜ 2000. Demnach gibt es unter den derzeitigen rechtlichen Gegebenheiten keine Vorschrift, die es erlaubt einer bereits bekannten Vorrichtung oder einem bereits bekanntem Medizinprodukt Neuheit basierend auf einer neuen medizinischen Anwendung der bereits bekannten Vorrichtung oder des bereits bekannten Medizinprodukts ausnahmsweise ebenfalls zuzugestehen.
Da der wachsende Medizintechnikbereich somit nicht mit einer expliziten Ausnahmeregelung analog der von der Pharmalobby erkämpften gesegnet wurde, kam man auf die Idee, das die für Stoffe und Zusammensetzungen formulierte Ausnahmeregelung von Artikel 54(5) EPÜ im Weg der Analogie auch für medizinische Vorrichtungen anzuwenden sein könnte. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass insbesondere die Entscheidung G 5/83 der Großen Beschwerdekammer des EPA mit Blick auf Artikel 54(5) EPÜ 1973 nicht am Wortlaut hing und die Auffassung vertrat, dass obwohl sich die Bestimmung nur auf die Neuheit von Stoffen und Zusammensetzungen zur medizinischen Verwendung bezieht, „es im Wege der Analogie gerechtfertigt erscheint“ („it seemed justifiable by analogy“) dieses Prinzip auf zweite und weitere medizinische Indikationen zu erweitern. Nach dem gleichem Prinzip begannen Anmelder folglich auch zu argumentieren, dass es im Wege der Analogie gerechtfertigt erscheint, die Ausnahmeregelung von Artikel 54(5) EPÜ 1973 für pharmazeutische Präparate auch für das benachbarte Gebiet der Medizinprodukte und medizinischen Vorrichtungen anzuwenden.
Bemerkenswert ist, dass im Anschluss an die Entscheidung G 5/83 im Jahr 1992 beispielsweise die Patentanmeldung EP 0 257 956 mit einem Hauptanspruch auf eine Vorrichtung im Format der medizinischen Verwendung [„Vorrichtung für …(medizinische Verwendung)“] erteilt wurde, wobei die Vorrichtung im Sinne eines medizinischen Verwendungsanspruchs ausgelegt wurde, d.h. der medizinische Verwendungszweck nicht ignoriert sondern als einschränkendes Merkmal berücksichtigt wurde, wie man es von Stoff- oder Zusammensetzungsansprüchen kennt.
Diese großzügige Herangehensweise der Prüfungsabteilungen des EPA ist jedoch nicht mehr aktuell. Ansprüche auf Vorrichtungen oder Medizinprodukte im Format der medizinischen Verwendung im Sinne von Artikel 54(5) EPÜ zwecks Argumentation von Neuheit gegenüber bereits bekannten Vorrichtungen oder Medizinprodukten werden nicht mehr akzeptiert, siehe beispielsweise die jüngsten Entscheidungen T 773/10 und T 2369/10 zu genau dieser Problematik.
In beiden Entscheidungen vertrat die Kammer die Ansicht, dass es keine Grundlage dafür gibt die für Stoffe und Zusammensetzungen ausnahmsweise mittels Artikel 54(5) EPÜ zugebilligte Neuheit auch auf andere Produkte zu übertragen. In T 2369/10 stellte die Kammer fest, dass Artikel 54(5) EPÜ nicht auf etwas erweitert werden kann, dass so nicht vorgesehen war. Das auch vor dem Hintergrund, dass die Kammer in den gesichteten vorbereitenden Arbeiten (Travaux Préparatoires) für das EPÜ 2000 die medizinische Verwendung von Vorrichtungen nirgendwo erwähnt wird, obgleich Artikel 54 EPÜ doch Gegenstand einer starken Überarbeitung war, bei der auch die Entscheidung G 5/83 entsprechende Berücksichtigung fand. Da aus Sicht der Kammer die Frage der Neuheit von medizinischen Verwendungsansprüchen der Form „Medizinische Vorrichtung Y zur Behandlung der Krankheit Y“ zuvor unmittelbar und eindeutig unter Bezug auf das EPÜ beantwortet wurde und die Kammer keinerlei Zweifel an der Richtigkeit daran hat wurde auch der Antrag des Anmelders auf Verweisung an die Große Beschwerdekammer des EPA zurückgewiesen. In ähnlicher Weise stellte die Prüfungsabteilung im Erteilungsverfahren der EP 0 828 222 in Bezug auf oben genanntes „Ausreißer“-Patent EP 0 257 956 klar, dass „eine einzelne Erteilung nicht geeignet ist, einen rechtlichen Gesichtspunkt in Frage zu stellen, der ansonsten mit höchster Konsistenz ohne irgendwelche Widersprüche auf allen Ebenen (EPÜ, EPA Richtlinien, Entscheidungen der Beschwerdekammern) behandelt wird“.