Mit der Entscheidung zu den zusammengelegten Verfahren G 1/22 und G 2/22 hat die Große Beschwerdekammer jüngst bejaht, dass das EPA für die Beurteilung der Frage zuständig ist, ob eine Partei einen aus dem EPÜ begründeten Prioritätsanspruch hat. Das gelte auch dann, wenn das Prioritätsrecht auf einen Rechtsnachfolger übertragen wurde. Die Formerfordernisse für eine solche Übertragung setzt die Große Beschwerdekammer dabei sehr niedrig an und bestätigt die Möglichkeit einer konkludenten Übertragung.
Die Rechtsnachfolge von Prioritätsrechten, insbesondere die Wirksamkeit von Übertragungen von Prioritätsrechten, wirft in der Praxis aufgrund des internationalen Charakters regelmäßig Fragen auf. Denn Übertragungen von privaten Rechten – wie Prioritätsrechten – und zugrundeliegende Vereinbarungen unterliegen in der Regel dem nationalen Zivilrecht. Da die Entstehung, das Bestehen und die Wirkungen des Prioritätsrechts nur durch das EPÜ (und durch die PVÜ in ihrer Beziehung zum EPÜ) geregelt werden, ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, Prioritätsrechte gemäß Artikel 87 (1) EPÜ seien autonome Rechte nach dem EPÜ und sollten auch nur im Kontext des EPÜ beurteilt werden, also unabhängig von nationalen Gesetzen. In diesem Zusammenhang ist es nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer gerechtfertigt, eine Vereinbarung, die durch die gemeinsame Einreichung einer Nachanmeldung impliziert wird, als eine Vereinbarung anzusehen, die nur dem autonomen Recht des EPÜ unterliegt. Das EPA sei insofern für die Beurteilung der Frage zuständig, ob eine Partei Anspruch auf eine Priorität gemäß Artikel 87 (1) EPÜ hat.
Grundsätzlich bestehe nach dem autonomen Recht des EPÜ eine widerlegbare Vermutung, dass der Anmelder, der eine Priorität beansprucht, zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist. Nichts anderes gilt auch für den Fall, wenn das Prioritätsrecht auf einen Rechtsnachfolger übertragen wurde. Fraglich war, inwieweit eine gemeinsame Einreichung einer Nachanmeldung eine formlose oder stillschweigende (konkludente) und wirksame Vereinbarung zwischen zwei Beteiligten darstellt, wenn nur einer der Beteiligten ein Anmelder der früheren Voranmeldung war. Die Große Beschwerdekammer ist dazu der Auffassung, dass wenn schon nationale Gesetze keine oder nur geringe Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten vorsehen, so solle das autonome Recht des EPÜ auch keine höheren Formerfordernisse als die nationalen Gesetze vorsehen, die im Zusammenhang mit einer europäischen Anmeldung relevant sein können. Vielmehr sollte sich das EPA an den niedrigsten Standards des nationalen Rechts orientieren und konkludente Übertragungen von Prioritätsrechten unter fast allen Umständen akzeptieren. Beispielsweise sollte das autonome Recht des EPÜ nicht verlangen, dass die Übertragung von Prioritätsrechten schriftlich erfolgen oder von den Parteien unterzeichnet werden muss, da dies angesichts der nationalen Rechtsvorschriften eine hohe Schwelle darstellen würde. Die Große Beschwerdekammer kommt aufgrund der niedrig angesetzten Formerfordernisse zu dem Schluss, dass eine gemeinsame Nachanmeldung in Ermangelung eindeutiger gegenteiliger Angaben ein hinreichender Hinweis dafür ist, dass die Parteien eine konkludente Vereinbarung getroffen haben, die es einem Beteiligten ermöglichen, sich auf das durch die Einreichung der Prioritätsanmeldung eines weiteren Beteiligten begründete Prioritätsrecht zu berufen.
Fast nebenbei äußerte sich die Große Beschwerdekammer auch zu dem Erfordernis, dass die Übertragung des Prioritätsrechts vor der Einreichung einer späteren europäischen Patentanmeldung abgeschlossen sein muss. Selbst dieses Erfordernis sei fragwürdig. Wenn es nationale Rechtsordnungen gibt, die eine nachträgliche („nunc pro tunc“) Übertragung von Prioritätsrechten zulassen, so sollte das EPA auch hier keine höheren Maßstäbe anlegen.
Zusammenfassend ist die Beurteilung der Frage, ob eine Partei Anspruch auf eine Priorität gemäß Artikel 87 (1) EPÜ hat, nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer eine Frage des autonomen Rechts des EPÜ, also unabhängig von nationalen Gesetzen, und das EPA insoweit zuständig. Die Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten setzt die Große Beschwerdekammer dabei sehr niedrigschwellig an, was in der Praxis für Patentanmelder eine große Erleichterung darstellen dürfte. So dürfte zukünftig grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein Prioritätsanspruch zugunsten des späteren Anmelders einer europäischen Patentanmeldung besteht, selbst wenn dieser nicht mit dem Anmelder der früheren Prioritätsanmeldung identisch ist.