Die meisten Erfindungen basieren auf bestehendem Wissen. Dieses Wissen, im Patentrecht auch „Stand der Technik“ genannt,  steht immer breiteren Kreisen zur Verfügung und geht mit einem steigenden Anteil von Parallelerfindungen einher, d.h. mehrere Erfinder bzw. Erfindergruppen gelangen unabhängig voneinander ausgehend vom verfügbarem Wissen bzw. Stand der Technik zu Erfindungen, die sich teilweise überlappen können. Die Patentanmelder erfahren häufig erst im Patenterteilungsverfahren von dem ihrer Erfindung zum Teil entgegenstehenden Stand der Technik und versuchen dann durch geschickte Formulierung des Patenanspruchs wenigstens den nicht überlappenden „Rest“ der Erfindung zu schützen. Dies geschieht machmal durch das Einfügen eines „negativen“ technischen Merkmals in den Patentanspruch, einen so genannten „Disclaimer“, womit der aus dem Stand der Technik bekannte überlappende Bereich ausgeschlossen werden kann.

Beispiel:

Patentanspruch: „Verwendung von Alkohol als Konservierungsmittel für….“

Stand der Technik: Ethanol wird als entsprechendes Konservierungsmittel verwendet.

Geänderter Anspruch mit Disclaimer: „Verwendung von Alkohol, wobei der Alkohol kein Ethanol ist, als Konservierungsmittel für….“

In der Rechtsprechung des Europäischen Patentamts stellte sich die Frage, ob eine solche Disclaimer-Lösung zulässig ist, wenn der Patentanspruch dadurch einen Gegenstand der Erfindung verliert, der in der Anmeldung als eine Möglichkeit der Ausführung der Erfindung beschrieben war. In der jüngsten Entscheidung G 1/10 der Großen Beschwerdekammer des EPA vom 30. August 2011 wurde diese von der Technischen Beschwerdekammer 3.3.08 in der Sache T 1068/07 vorgelegte Rechtsfrage: „Verstößt ein Disclaimer gegen Artikel 123(2) EPÜ, wenn sein Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Ausführungsform der Erfindung offenbart war?“ mit einem klaren NEIN beantwortet. Änderungen von Patentansprüchen mittels Disclaimer von offenbarten Ausführungsformen der Erfindung („offenbarte Disclaimer“) sind also weiterhin möglich.

Die Entscheidung G 2/10 ist zu begrüßen und erscheint mit Blick auf die früheren Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 1/03 und G 2/03 folgerichtig. In G 1/03 und G 2/03 stellte sich die Frage zur Zulässigkeit von Disclaimern auf nicht offenbarte Ausführungsformen der Erfindung („nicht offenbarte Disclaimer“). Gemäß G1/03 und G2/03 kann ein nicht offenbarter Disclaimer dann zulässig sein, wenn er dazu dient, die Neuheit eines Anspruchs gegenüber nachveröffentlichten Patentanmeldungen gemäß Artikel 54(3) und (4) EPÜ herzustellen. Auch gegenüber „normalem“ Stand der Technik gemäß Artikel 54(2) EPÜ kann ein Disclaimer dann zulässig sein, wenn er zur Abgrenzung gegenüber „zufälligen“ Offenbarungen dient, also solchen, die so bezugslos zu und fern von der beanspruchten Erfindung sind, dass sie der Fachmann „beim Erfinden“ nicht in Betracht gezogen hätte. Des Weiteren kann ein Disclaimer dazu dienen, von der Patentierung gemäß Artikeln 52 bis 57 EPÜ ausgenommene Gegenstände vom Schutz auszuschließen.