Seit Inkrafttreten des Europäischen Patentübereinkommens im Jahre 1978 verbietet Artikel 53 EPÜ die Patentierung von Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die guten Sitten verstößt. Ebenso lange wird darum gestritten, wie der Begriff der „guten Sitten“ einheitlich auszulegen ist für ein Gebiet von inzwischen 35 EPÜ-Mitgliedstaaten, die völlig unterschiedliche Rechtsordnungen und Rechtstraditionen besitzen.
1998 erließ die EU die sogenannte Biotechnologie-Richtlinie, die den Begriff der guten Sitten jedenfalls für den Rechtsraum der EU konkretisierte. Obwohl nicht alle EPÜ-Mitgliedstaaten auch EU-Mitglieder sind, wurden die Bestimmungen der Biotechnologierichtlinie bereits 1999 in die Ausführungsordnung des EPÜ übernommen. Die Biotechnologie-Richtlinie und damit auch die EPÜ-Ausführungsordnung verbieten seitdem unter anderem die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken.
Im Jahr 1996 reichte die Wisconsin Alumni Research Foundation eine Patentanmeldung ein, in der unter anderem eine Kultur menschlicher Stammzellen beansprucht wurde. Einen Verfahrensanspruch gerichtet auf die Gewinnung dieser Stammzellen unter Verwendung menschlicher Embryonen gab es nicht, jedoch war 1996 die Gewinnung einer solchen Kultur nur so möglich. Die Prüfung der Patentanmeldung zog sich weit über das Jahr 1999 hin, und es stellte sich die Frage, ob das 1999 eingefügte Verbot der Verwertung menschlicher Embryos zu industriellen Zwecken auch auf solche „Altanmeldungen“ anwendbar ist und welchen konkreten Inhalt es hat. Beide Fragen mussten von der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts entschieden werden.
Zur ersten Frage entschied die Große Beschwerdekammer, dass mit der Umsetzung der Biotechnologierichtlinie in das EPÜ kein neues Recht geschaffen wurde, sondern lediglich das bestehende Recht (gute Sitten) konkretisiert werden sollte. Daher seien diese ohne Übergangsbestimmungen in die Ausführungsordnung eingefügten Regelungen ohne weiteres auf Altanmeldungen anwendbar.
Zur Frage der Reichweite des Verbots der Verwertung menschlicher Embryonen zu industriellen Zwecken lautet die Entscheidung, dass durch dieses Verbot jedwede Patentansprüche erfasst werden, die entweder unmittelbar auf eine solche Verwertung gerichtet sind oder aber eine entsprechende Verwertung als notwendigen vorgelagerten Schritt umfassen, selbst wenn er nicht konkret im Anspruch steht. Der Patentanspruch der streitigen Anmeldung war auf die fertige Kultur gerichtet und schwieg sich darüber aus, wie diese gewonnen werden sollte. Da am Anmeldetag der Anmeldung eine solche Gewinnung nur unter Verwendung menschlicher Embryonen möglich war, erfasst das entsprechende Patentierungsverbot der Großen Beschwerdekammer zufolge einen solchen Patentanspruch. Dabei spielt es keine Rolle, dass nach dem Anmeldetag Verfahren verfügbar wurden, die die Gewinnung solcher Stammzellkulturen ohne Zerstörung menschlicher Embryonen ermöglichen.
Die Entscheidung schafft Klarheit in zwei streitigen Verfahren zur Patentierung biotechnologischer Erfindungen:
- Die 1999 ins EPÜ übernommenen Bestimmungen der EU-Biotechnologierichtlinie sind anwendbar auf alle europäischen Patentanmeldungen und Patente, auch wenn diese vor dieser Änderung des EPÜ eingereicht wurden.
- Das Verbot der industriellen Verwertung menschlicher Embryonen erstreckt sich nicht nur auf entsprechende Verfahrensansprüche, sondern auch auf Stoffansprüche, wenn zur Gewinnung dieses Stoffes (menschlicher Stammzelllinien) unvermeidlich menschliche Embryonen verwertet werden müssen. Eine Patentierung menschlicher Stammzelllinien bleibt möglich, wenn diese aus anderen Quellen gewonnen werden können.