Bei der Frage der Neuheit einer Erfindung, deren Kern in der Auswahl eines Teilbereichs aus einem größeren aus dem Stand der Technik bekannten Bereich liegt, wenden die Prüfer des EPA üblicherweise die in den Prüfungsrichtlinien G-VI 8, Punkt (ii) nachfolgend zitierten drei Kriterien an:
a. Der ausgewählte Teilbereich ist im Vergleich zu dem bekannten Bereich eng,
b. der ausgewählte Teilbereich hat genügend Abstand von konkreten im Stand der Technik offenbarten Beispielen und von den Eckwerten des bekannten Bereichs und
c. der ausgewählte Bereich ist kein willkürlicher Ausschnitt des Stands der Technik, d. h. keine bloße Ausführungsform des Stands der Technik, sondern eine andere Erfindung (gezielte Auswahl, neue technische Lehre).
Diese Kriterien wurden ursprünglich in der Beschwerdekammerentscheidung T 198/84 aus dem Jahr 1985 aufgestellt und vom EPA seitdem mehr als 25 Jahre verwendet.
Mindestens vier Beschwerdekammern des EPA (3.2.06; 3.3.05; 3.3.10; 3.4.03) berücksichtigen letztgenanntes Kriterium c jedoch nicht mehr. Die Kammer 3.2.06 weist in ihrer Entscheidung T 40/11 vom 15. Juli 2014 darauf hin, „dass in Frage gestellt werden kann, ob das dritte in T 198/04 aufgestellte Kriterium bei der Neuheitsprüfung berücksichtigt werden müsse“. Die weiteren genannten Kammern stellen sich sogar auf den Standpunkt, dass das Kriterium c allein für die Frage der erfinderischen Tätigkeit relevant ist und daher bei der Frage der Neuheit nicht zu berücksichtigen ist (s. die Entscheidungen T 1233/05 vom 24. April 2008; T 230/07 vom 5. Mai 2010; T 1130/09 vom 5. Mai 2011; T 1948/10 vom 26. Juni 2014; T 378/12 vom 8. Dezember 2016).
Die von der bis dahin geltenden Neuheitsprüfung abweichende Herangehensweise mit alleiniger Prüfung der Kriterien a und b kann sich unmittelbar zu Gunsten den Anmelders bei der Patentierung seiner Auswahlerfindung auswirken, z.B. wenn er die Neuheitshürde gegenüber entgegengehaltenen Stand der Technik nehmen muss, der nur in Bezug auf Neuheit und nicht bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit Berücksichtigung finden darf [sogenannter Stand der Technik nach Art. 54(3) EPÜ].
Anmeldern, bei denen im Rahmen der Neuheitsprüfung ihrer Auswahlerfindung amtsseitig das Kriterium c geprüft und als mangelhaft entgegengehalten wird, ist zu raten unter Verweis auf vorgenannte Entscheidungen diese Neuheitshürde zu umschiffen. Der Hinweis auf die vorgenannten Entscheidungen macht auch deshalb Sinn, weil die der neueren Rechtsprechung nicht Rechnung tragenden EPA-Richtlinien vom Prüfer als Handlungsanweisung gesehen werden und er die darüber stehende vorgenannte jüngere Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht zwingend kennen muss, erst Recht, wenn man berücksichtigt dass keine der für den Anmelder vorteilhaften Entscheidungen im Amtsblatt des EPA publiziert wurde. Führt auch dies nicht bei der Prüfungsabteilung in erster Instanz oder der Beschwerdekammer in zweiter Instanz zum Erfolg, dann wird es ein Fall für die Vorlage an die Große Beschwerdekammer des EPA um eine einheitliche Rechtsanwendung durch eine dann übergeordnete Entscheidung herbeizuführen.