Gemäß den Prüfungsrichtlinien des EPA ist ein Anspruch, der eine Verbindung mit einem bestimmten Reinheitsgrad definiert, gegenüber einer Offenbarung im Stand der Technik, die dieselbe Verbindung beschreibt, grundsätzlich auch dann nicht neu, wenn dieser entgegengehaltene Stand der Technik die beanspruchte Reinheit weder explizit noch implizit offenbart. Siehe hierzu Ziffer G-VI, 7. „Neuheitsprüfung“ der EPA-Richtlinien, wie nachfolgend zitiert:

Eine bekannte Verbindung wird nicht schon dadurch neu, dass sie in einem anderen Reinheitsgrad vorliegt, wenn dieser Reinheitsgrad mit herkömmlichen Mitteln erzielt werden kann (siehe T 360/07).

Dieser Grundsatz, d.h. die Offenbarung des Standes der Technik mit Kenntnissen zu herkömmlichen Mitteln ergänzend zu kombinieren, um fehlende Neuheit zu begründen, ist jedoch mit Blick auf die Entscheidung T 1085/13 vom 9. November 2018 nicht mehr gültig. T 1085/13 besagt, dass bei einem Anspruch Neuheit anzunehmen sei, wenn die Offenbarung des Standes der Technik ergänzt werden muss, z.B. durch eine geeignete (weitere) Reinigungsmethode, die es ermöglicht, die beanspruchte Reinheit zu erreichen. Vielmehr sei dies eine Frage, die bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen sei.

Obgleich der neue Ansatz bei der Bewertung der Neuheit solcher Reinheitsgrad-Erfindungen gemäß der Entscheidung T 1085/13 von erheblicher praktischer Bedeutung ist, was sich auch in dem EPA internen Verteilungscode „B“ (An Vorsitzende und Mitglieder) auf dem Deckblatt der genannten Entscheidung widerspiegelt, weisen die jährlich aktualisierten EPA-Richtlinien leider immer noch vier Jahre nach T 1085/13 den eingangs zitierten veralteten und Anmelder-unfreundlichen Prüfungsansatz auf. Das kann sich erheblich auf die Patentierbarkeit einer Erfindung auswirken, z.B. bei Erfindungen, die nur die Hürde der Neuheit nehmen müssen, weil der Stand der Technik für die Frage der erfinderischen Tätigkeit irrelevant ist [sogenannter Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ].

Anmeldern, bei denen im Rahmen der Neuheitsprüfung ihres Reinheitsgrad-Anspruchs der veraltete Neuheitsmaßstab aus den EPA-Richtlinien angelegt wird, ist zu raten, sich auf die Entscheidung T 1085/13 und die sich ihr anschließende aktuelle Entscheidung T 43/18 vom 1. Juni 2022 zu ihren Gunsten zu berufen, um die Neuheitshürde zu umschiffen. Dies ist insbesondere deshalb sinnvoll, weil keine der beiden Entscheidungen im Amtsblatt des EPA veröffentlicht wurde und den Prüfern des EPA, die nur in den oben zitierten (und insoweit veralteten) Prüfungsrichtlinien nachschlagen, unbekannt sein dürften.