Wie in unserem jüngsten News-Artikel vom 13. Oktober 2023 dargelegt, kann die Beweislast bei der Geltendmachung mangelnder bzw. ausreichender Offenbarung im Sinne von Artikel 83 EPÜ für beide Parteien in Einspruchsverfahren zu einer äußerst relevanten, aber manchmal auch herausfordernden Streitfrage werden.
Dies gilt auch für Ansprüche sogenannten zweiten medizinischen Indikation mit dem üblichen Anspruchsformat „Stoff/Zusammensetzung X zur Verwendung bei der Behandlung von Krankheit Y„, bei dem die vorteilhafte therapeutische Wirkung als technisches Merkmal des Anspruchs implizit mitgelesen wird. Wichtig ist dabei zu wissen, dass diese therapeutische Wirkung bereits in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen glaubhaft belegt sein muss, was üblicherweise mit entsprechenden Daten in dem experimentellen Teil der Beschreibung erfolgt. Ein diesbezüglicher Mangel kann nämlich nicht durch nachveröffentlichte Beweismittel behoben werden, wie in der jüngsten Entscheidung G 2/21 vom 23. März 2023 über die Zulässigkeit von nachveröffentlichten Beweismitteln zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit und der ausreichenden Offenbarung unter Ziffer 77 der Entscheidung ausgeführt:
… der Spielraum für die Heranziehung nachveröffentlichter Beweismittel ist bei der ausreichenden Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) deutlich enger als bei der erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ). Um dem Erfordernis zu genügen, dass die Offenbarung der Erfindung ausreichend klar und vollständig sein muss, damit der Fachmann sie ausführen kann, muss der Nachweis einer beanspruchten therapeutischen Wirkung bereits in der ursprünglich eingereichten Anmeldung vorliegen, insbesondere dann, wenn es für den Fachmann ohne experimentellen Daten in der Anmeldung nicht glaubhaft ist, dass die therapeutische Wirkung erzielt wird. Ein diesbezüglicher Mangel kann nicht durch nachveröffentlichte Beweismittel behoben werden.
Dieses Fazit in G 2/21 war maßgebend für eine Reihe von anhängigen Anmeldungen und Einspruchsverfahren beim EPA, die in Erwartung der Grundsatzentscheidung G 2/21 ausgesetzt wurden und bei denen die therapeutische Wirkung für Ansprüche der zweiten medizinischen Indikation allein durch nachveröffentlichte Nachweise glaubhaft gemacht werden konnte, wie z. B. im Einspruchsbeschwerdeverfahren zu der kürzlich veröffentlichten Entscheidung T 2790/17 vom 6. November 2023.
In T 2790/17 hatte die Beschwerdekammer zu prüfen, ob ein erteilter Anspruch der zweiten medizinischen Indikation ausreichend im Sinne von Artikel 83 EPÜ offenbart war. Obwohl die ursprünglich eingereichte Anmeldung eine Vielzahl an experimentellen Daten umfasste, d. h. auf den ersten Blick alles in Ordnung zu sein schien, prüfte die Beschwerdekammer diese Daten gründlich und kam zu dem Schluss, dass diese Ursprungsdaten die therapeutische Wirkung nicht belegen. Unter Verweis auf G 2/21 konnten auch die nachveröffentlichten Dokumente, die zum Nachweis der therapeutischen Wirkung herangezogen wurden, nicht berücksichtigt werden.
T 2790/17 zeigt einmal mehr, dass Anmelder vor der Einreichung ihrer Anmeldung inhaltlich genau prüfen müssen, ob die experimentellen Daten zu den Ansprüchen in der einzureichenden Anmeldung passen, insbesondere auch, ob sich die für Ansprüche der zweiten medizinischen Indikation darzulegende therapeutischen Wirkung tatsächlich aus den experimentellen Daten herleiten lässt. Einsprechende hingegen sollten die experimentellen Daten im Patent ebenfalls sorgfältig in die gegenteilige Richtung prüfen, um eine angenommene therapeutische Wirkung in Frage zu stellen, die sich bei genauerer Prüfung nicht aus den Daten ableiten lässt. Werden Einsprechende an dieser Stelle fündig oder finden unter Umständen sogar „Kamikaze“-Daten die in die gegenteilige Richtung weisen, ist der Weg für einen erfolgsversprechenden Einwand nach Artikel 83 EPÜ durch das Patent selbst geebnet.