In Europa sind in-vivo-Diagnoseverfahren nach Artikel 53(c) EPÜ aus sozial-ethischen und gesundheitspolitischen Erwägungen von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.

In der Entscheidung G 1/04 hat die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) in Ziffer 5 der Begründung darauf hingewiesen, dass zu den Phasen, die bei der Erstellung einer Diagnose zu beachten sind, folgende gehören:

1. die Prüfungsphase mit der Erhebung von Daten,
2. der Vergleich dieser Daten mit Standardwerten,
3. die Feststellung einer signifikanten Abweichung, d. h. eines Symptoms, während des Vergleichs, und
4. die Zuordnung der Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild, d.h. die deduktive medizinische oder tierärztliche Entscheidungsphase.

Nach dieser Entscheidung ist ein Verfahrensanspruch, der alle genannten Phasen (i)-(iv) umfasst, als ein nach Artikel 53 (c) EPÜ nicht patentierbares diagnostisches Verfahren anzusehen. Mit anderen Worten: Es ist möglich, Schutz für Verfahren zu erlangen, die nicht alle genannten Phasen umfassen, z. B. Verfahren, die die Phasen (i)-(iii), aber nicht die abschließende Diagnosephase (iv) umfassen.

Während die Entscheidung G 1/04 implizit nahelegt, die Diagnosephase (iv) in einem Verfahrensanspruch wegzulassen, um den Patentierungsausschluss nach Artikel 53(c) EPÜ zu umgehen, kann es Verfahrensansprüche geben, die immer noch gewisse Anspruchsmerkmale erfordern, die als äquivalent zu der genannten Phase (iv) zu betrachten sind. So kann es beispielsweise sein, dass ein Verfahrensanspruch ursprünglich für eine Jurisdiktion abgefasst wurde, die in-vivo-Diagnoseverfahrensansprüche zulässt, aber wenn der Verfahrensanspruch nach Europa gelangt, die nunmehr problematische Phase (iv) nicht aus dem Verfahrensanspruch gestrichen werden kann, ohne gegen die Offenbarungserfordernisse des Artikel 123(2) EPÜ zu verstoßen, oder die Merkmale der Phase (iv) sind zwingend erforderlich, um Neuheit und erfinderische Tätigkeit mit Blick auf den vom EPA angeführten Stand der Technik zu begründen.

Die kürzlich ergangene Entscheidung T 529/19 vom 24. April 2023 enthält Anmelder-freundliche Hinweise für den Umgang mit solchen in-vivo-Diagnoseverfahrensansprüchen, die immer noch Formulierungen umfassen, die nach Ansicht einiger EPA-Prüfer unter die Phase (iv) fallen könnten. In dieser Entscheidung begannen die fraglichen unabhängigen Verfahrensansprüche mit der Formulierung „Verfahren zur Bestimmung des Hautgesundheit ...“ bzw. „Verfahren zur Beurteilung des allgemeinen Gesundheitszustands eines Individuums …“, bevor die Phasen (i)-(iii), wie in der oben zitierten Entscheidung G1/04 dargelegt, anspruchsgemäß spezifiziert wurden.

In der Entscheidung T 529/19 verwarf die Beschwerdekammer die zuvor von der Prüfungsabteilung getroffene Feststellung, dass die Phase (iv) aus der Formulierung „zur Bestimmung der Hautgesundheit“ oder „zur Beurteilung des allgemeinen Gesundheitszustands eines Individuums“ zu Anfang der fraglichen Verfahrensansprüche ableitbar sei. Nach Ansicht der Beschwerdekammer lassen die fraglichen Ansprüche offen, was die Bestimmung der „Hautgesundheit“ oder die „Beurteilung des allgemeinen Gesundheitszustands eines Individuums“ bedeutet, „… die allenfalls einen Zwischenbefund von diagnostischem Wert darstellen„. (Punkte 2.2 und 2.3 der Begründung). Hierzu ist anzumerken, dass in der Beschreibung als Einflussfaktor auf die Werte in den Datenerfassungsphasen (i)-(iii) „Diabetes“ als klares Krankheitsbild im Sinne von Phase (iv) erwähnt wurde, aber, wie die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung richtig feststellte, das besagte Krankheitsbild „Diabetes“ eben nicht in die Verfahrensansprüche aufgenommen wurde, die sich nur anspruchsgemäß auf „Hautgesundheit“ und den „allgemeinen Gesundheitszustands eines Individuums“ bezogen.

Erkenntnis aus T 529/19: Ein in-vivo-Diagnoseverfahren kann durchaus beansprucht werden und ist nicht nach Artikel 53(c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen, wenn sich die Zuordnung der aus den Phasen (i)-(iii) abgeleiteten Abweichung lediglich auf „einen Zwischenbefund von diagnostischem Wert“ (wie „Hautgesundheit“ oder den „allgemeine Gesundheit eines Individuums„) bezieht, d.h. nicht auf ein spezifisches Krankheitsbild (z.B. „Diabetes“), auf das sich der Kern der Erfindung üblicherweise konzentriert. Mit anderen Worten: Die Aufweitung des unzulässigen „Krankheitsbildes“ auf einen zulässigen „Zwischenbefund von diagnostischem Wert“ ebnet den Weg, um der Ausschlussbestimmung für in-vivo-Diagnoseverfahren nach Artikel 53(c) EPÜ zu entgehen, und stellt eine Alternative zu dem in G 1/04 implizit vorgeschlagenen Ansatz dar, die Phase (iv) wegzulassen, was nicht immer das geeignete Mittel der Wahl ist.