Im Patenrecht gilt der allgemeine Grundsatz, dass ein Produktanspruch nur gewährbar ist, wenn das Produkt als solches neu ist. Jedoch keine Regel ohne Ausnahme. Als das Europäische Patentübereinkommen in Europa in Form gegossen wurde, machten „interessierte Kreise“ geltend, dass eine Förderung der Forschung in Bezug auf neue therapeutische Anwendungen bereits bekannter Wirkstoffe von humanitärem Wert sei. Als Ergebnis dieser Lobbyarbeit entstand die spezifische Ausnahme für die unterstellte Neuheit eines bekannten Stoffs für eine neue medizinische Verwendung, die den eingangs genannten Grundsatz durchbricht.

Diese spezifische Ausnahme ist etwas verklausuliert im derzeitigen Artikel 54(5) EPÜ mit folgendem Wortlaut definiert (Unterstreichung hinzugefügt):

Ebenso wenig wird die Patentierbarkeit der in Absatz 4 genannten Stoffe oder Stoffgemische zur spezifischen Anwendung in einem in Artikel 53c) genannten Verfahren durch die Absätze 2 und 3 ausgeschlossen, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört.

Ein Anspruch im Format der zweiten medizinischen Indikation mit dem üblichen Formulierungswortlaut „Stoff/Stoffgemisch X zur spezifischen medizinischen Anwendung gemäß Artikel 53c) EPÜ, z.B. zur Verwendung bei der Behandlung von Krankheit Y„, wird daher als neu angesehen, wenn ein bekannter Stoff/Stoffgemisch für die beanspruchte spezifische medizinische Anwendung zuvor nicht bereits im Stand der Technik offenbart wurde.

In der kürzlich veröffentlichten Entscheidung T 558/20 vom 20. April 2023 hatte die Beschwerdekammer zu prüfen, ob ein erteilter Anspruch mit nachfolgend zitiertem Wortlaut im Format besagter zweiten medizinischen Indikation als neu gegenüber dem Stand der Technik angesehen werden kann, und zwar allein auf der Grundlage der (unterstrichenen) chirurgischen Verfahrensschritte, die unter Artikel 53c) EPÜ fallen:

Knochenregeneratives Material, umfassend Kalziumsulfat, Kalziumphosphat oder demineralisierte Knochenmatrix (DBM) oder eine Kombination davon („Stoff/Stoffgemisch X“), zur Verwendung in einem Verfahren zur Behandlung eines Patienten, der an einer degenerativen Knochenkrankheit leidet, die durch einen Verlust der Knochenmineraldichte (BMD) charakterisiert werden kann („Krankheit Y“), wobei das Verfahren umfasst: Bilden eines Hohlraums in einem lokalisierten Bereich des intakten Knochens durch Entfernen von degeneriertem Knochenmaterial und optionales Entfernen eines Teils des degenerierten Knochenmaterials; und zumindest teilweises Füllen des gebildeten Hohlraums mit einem Knochenregenerationsmaterial, das die Bildung von neuem, nicht degeneriertem Knochenmaterial in dem Hohlraum erleichtert.

Da sowohl der Stoff bzw. das Stoffgemisch „X“ als auch ihre Verwendung für die Behandlung der „Krankheit Y“ bereits aus dem Stand der Technik bekannt waren, lautete die relevante Frage daher: Können allein die genannten (unterstrichen) chirurgischen Schritte, die unter Artikel 53c) EPÜ fallen, Neuheit gegenüber dem Stand der Technik begründen?

In der ersten Instanz folgte die Einspruchsabteilung der Auffassung des Einsprechenden und verneinte diese Frage, im Wesentlichen mit dem Argument, dass der genannte chirurgische Eingriff nichts mit dem beanspruchten Stoff bzw. dem beanspruchten Stoffgemisch und deren therapeutischer Wirkung zu tun habe.

In der folgenden höheren Instanz verwarf die nunmehr dafür zuständige Beschwerdekammer jedoch diese Sichtweise der Einspruchsabteilung und vertrat in der entsprechenden Entscheidung T 558/20 die gegenteilige Auffassung, d.h. die Kammer betrachtete die (unterstrichenen) chirurgischen Schritte als neuheitsbegründende Merkmale. Die Argumentation der Beschwerdekammer ist so einfach wie überzeugend: Der oben zitierte Artikel 54(5) EPÜ legt ausdrücklich fest, dass „(jede) spezifische Anwendung in einem in Artikel 53c) EPÜ genannten Verfahren“ zu berücksichtigen ist, was auch chirurgische Eingriffe einschließt, die unter Artikel 53c) EPÜ fallen und integraler Bestandteil des im oben zitierten Anspruch definierten Verfahrens sind. So stellt die Kammer zu den chirurgischen Schritten ausdrücklich fest: „Dies ist die in Artikel 54(5) EPÜ genannte ’spezifische Anwendung in einem Verfahren‘, und diese muss mit der Offenbarung des Standes der Technik verglichen werden“ und „Daher können die chirurgischen Verfahrensschritte bei der Beurteilung der Neuheit des Anspruchs nicht ignoriert werden.“ Die Kammer hob die erstinstanzliche Entscheidung auf erkannte die Neuheit gemäß Artikel 54(5) EPÜ für einen Anspruchssatz an, bei dem die Neuheit allein auf den spezifischen chirurgischen Schritten beruht.

Erkenntnis aus T 558/20: Bei Ansprüchen in Format der zweiten medizinischen Indikation ist nicht mehr als der einfache Goldstandard-Neuheitstest des EPA anzuwenden, bei dem gefragt wird, ob ein Fachmann die Anspruchsmerkmale (hier auch die chirurgischen Schritte, die unter Artikel 53c) EPÜ fallen) direkt und eindeutig aus einem Dokument des Standes der Technik herauslesen kann.